Lex: Eugenik und Euthanasie

Der Begriff Eugenik stammt vom griechischen Wort „eugenes“ ab, was auf Deutsch in etwa „von edler Abstammung“ bedeutet. Diese am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb der Wissenschaft etablierte Vorstellung einer „Erbgesundheitslehre“ verfolgte das Ziel, mittels der Anwendung theoretischer Konzepte den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen in der Bevölkerung zu vergrößern und den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern.

Die Eugenik wurde nicht von den Nationalsozialisten erfunden, sondern war weltweit verbreitet und beeinflusste staatliches Handeln auch in liberalen Demokratien. So gab es in einigen Bundesstaaten der USA oder dem sozialdemokratischen Schweden eigene Gesetze zur Zwangssterilisation von geistig behinderten Menschen. Im NS-Staat wurde sie allerdings zur prägenden Grundlage des gesundheitspolitischen Handelns gemacht. In Deutschland hat der Begriff „Eugenik“ deshalb heute eine negative Konnotation. In anderen europäischen Ländern sowie in den USA ist dies nicht in gleichem Maße der Fall. Dennoch gilt er heutzutage zunehmend als veraltet und wird durch technisch eindeutigere Begriffe wie „genetic enhancement engineering“ ersetzt.

Mit dem Begriff „Euthanasie“, was ursprünglich „schöner Tod“ bedeutet, wurde während der Zeit des Nationalsozialismus die gezielte Tötung von Menschen bezeichnet, denen aufgrund der Ideologie der Nationalsozialisten das Recht zu Leben abgesprochen wurde. Betroffen von diesem staatlich organisierten Mordprogramm waren sowohl unheilbar Kranke als auch Menschen mit Einschränkungen.

Lex: Dr. Harry Stern

Dr. Harry Stern war der 15 Jahre jüngere Kanzlei-Partner von Dr. Alex Heilbrun. Stern wurde am 23. April 1894 in Reichensachsen geboren. Nach seinem Jurastudium an der Uni Marburg ab 1912 kam er 1923 nach Erfurt und war hier zunächst Gerichtsassessor. Er engagierte sich in der Jüdischen Gemeinde Erfurt in der Ortsgruppe der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ sowie im „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“. Während der Zeit des Nationalsozialismus war er von Diskriminierung und Gewalt betroffen. Er versuchte deshalb, 1938 nach Brasilien zu emigrieren. Aufgrund des Kriegsausbruchs 1939 endete die Reise in England, wo er bis 1968 lebte. Er verstarb in London.

Lex: Desertion

Fahnenflucht oder Desertion bezeichnet das Fernbleiben eines Soldaten von seiner militärischen Einheit. Das Wort Deserteur leitet sich vom lateinischen Wort „deserere“ (dt. verlassen) ab.

Desertion wird in vielen Ländern der Erde bestraft.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Deserteure unerbittlich verfolgt. Die NS-Justiz folgte der von Adolf Hitler bereits 1933 ausgegebenen Maxime „Ein Soldat kann sterben, ein Deserteur muss sterben!“ Insgesamt desertierten aus der deutschen Wehrmacht schätzungsweise 350.000 – 400.000 Menschen, die meisten kurz vor Kriegsende. Das entspricht ca. 2% der Soldaten. Über 30.000 Männer wurden von der NS-Justiz zum Tode verurteilt, rund 22.000 Urteile vollstreckt. Zum Vergleich: In England gab es während des Zweiten Weltkrieges 40 verurteilte Deserteure.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus galten Deserteure jahrzehntelang juristisch als vorbestraft, gesellschaftlich wurden sie als „Verräter“ stigmatisiert. Ihre Richter konnten hingegen auch in der Bundesrepublik Karriere machen. Eine Studie über das Bundesjustizministerium und den NS-Staat belegt dies: Von den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973 in Leitungspositionen des Ministeriums tätig waren, gehörten 90 der NSDAP und 34 der SA an.

1991 stellt der Bundesgerichtshof in einem Urteil fest, dass es sich bei der Wehrmachtsjustiz um eine Terrorjustiz gehandelt habe. Der Bundestag wurde aufgefordert, die Urteile der Wehrmachtsjustiz aufzuheben. Daraufhin erfolgte 1998 ein Beschluss des Bundestages, der die Urteile der NS-Justiz grundsätzlich aufhob, allerdings hielt er bei Deserteuren an einer Einzelfallprüfung fest. Erst 2002 wurden auch die NS-Urteile gegen die Wehrmachtsdeserteure pauschal aufgehoben, damals mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS. Ihre Ablehnung der Aufhebung begründeten CDU und FDP damit, dass die anderen Soldaten damit moralisch abqualifiziert würden.

Lex: Arthur Arndtheim

Arthur Arndtheim war einer der Gründer des großen „Kaufhauses Römischer Kaiser“. Er war verschwägert mit Siegfried Pinthus und gehörte der Erfurter Oberschicht an. Als aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde stellte er sich durch sein aktives Bekenntnis zur Religion dem Zeitgeist der Assimilation entgegen.

Arthur Arndtheim wurde am 8. Juni 1879 in Brieskow-Finkenheerd, südlich von Frankfurt/Oder geboren. Er war der älteste Sohn von Luis und Cassandra Arndtheim, geborene Tietz. Der Name Tietz ist bis heute eng mit der Geschichte der Warenhäuser in Deutschland verbunden, denn Leonhard Tietz gründete Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Kaufhäuser. Nach deren Enteignung durch die Nationalsozialisten ging aus diesen Warenhäusern die heutige Karstadt AG hervor. 1908 zog Arndtheim mit seiner Frau nach Erfurt. Hier kamen 1919 und 1921 die Söhne Kurt und Karl Heinz zur Welt. Arthur Arndtheim war 1932 Mitglied der hoch angesehenen Repräsentanten-Versammlung der jüdischen Gemeinde und 1933 als deren Schriftführer im Kulturausschuss tätig. Vor allem im Zuge der zunehmenden antisemitischen Repressalien wurde seine Villa zu einem wichtigen Treffpunkt kleiner Gruppen, die sich dort zu Vorträgen und Diskussionsrunden über aktuelle Probleme versammelten.

1936 wurde Arthur Arndtheim erstmalig verhaftet und unter Druck gesetzt, das Kaufhaus aufzugeben. Ab diesem Zeitpunkt lebte er versteckt. Den Novemberpogrom von 1938 erlebte er in Berlin. In Erfurt wurden gleichzeitig der Geschäftsführer des Kaufhauses, Max Arenstein und der jüngere Sohn Arndtheims, Karl-Heinz, verhaftet und in das KZ Buchenwald verschleppt.  Im März 1939 kaufte ein Bezirksdirektor und NSDAP-Mitglied das Wohnhaus der Familie Arndtheim für 35.000 Reichsmark, die an das Finanzamt zu entrichten waren. Ihres gesamten Besitzes beraubt, wanderte die Familie 1939 nach Palästina aus und lebte in Ramat-Gan. Am 31. Januar 1940 wurde die Familie offiziell ausgebürgert. Der 66-jährige Arthur Arndtheim starb 1945 in Palästina.

In der neuen Heimat der Familie wurde Kurt Arndtheim 1948 Opfer des Krieges. Erna und Karl Heinz verlegten ihren Wohnsitz in die Schweiz. Sie bemühten sich um eine Rückübertragung des Erfurter Familieneigentums. 1975 verstarb Erna Arndtheim in Konstanz, wo auch Karl Heinz und seine Nachkommen leben.

Lex: Stolpersteine

Bei den Stolpersteinen handelt es sich um ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das 1992 begann. Sie sind als dezentrales Mahnmal in vielen europäischen Städten zu finden. Im Boden eingelassene kleine messingfarbene Gedenktafeln in der Größe eines Pflastersteins erinnern an das Schicksal von Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Mittlerweile wurden über 75.000 Stolpersteine verlegt. Sie wurden in der Regel von zivilgesellschaftlichen Initiativen initiiert, die auch ihre Finanzierung absichern.

In einigen Städten gibt es jedoch auch Debatten um die Angemessenheit dieser Form der Erinnerung: Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens und Oberbayerns und selbst Überlebende des Holocaust, kritisierte beispielsweise, dass auf den im Boden eingelassenen Tafeln mit den eingravierten Namen verfolgter Menschen mit den Füßen „herumgetreten“ werde. München entschied sich deshalb im Jahr 2018 für ein eigenes Format der Erinnerung. Dort wurden Stelen installiert, die an die Wohn- und Arbeitsorte verfolgter Menschen erinnern sollen. Auch in Erfurt sind keine Stolpersteine zu finden. Stattdessen wurde vom Arbeitskreis „Erfurter GeDenken“, einer bürgerschaftlichen Initiative, die Errichtung von „DenkNadeln“ im öffentlichen Raum ermöglicht.

Lex: Siegfried Pinthus

Siegfried Pinthus wurde 1870 in Berlin geboren. Er war der Ehemann von Arthur Arndtheims Schwester Hedwig. 1896 zog das Ehepaar nach Erfurt, wo sein Vater bereits ein Kaufhaus betrieb. Siegfried Pinthus war zudem in leitender Stellung in der Erfurter Synagogengemeinschaft tätig. 1903 kam die erste Tochter des Ehepaars, Lotta Johanna, zur Welt, ein Jahr später die zweite, Elly Fanny. Hedwig Pinthus war Vorsitzende des Israelitischen Frauenvereins und der Schwesternvereinigung der Erfurter Loge. Sie nahm seit 1932 als vollwertiges Mitglied an der Repräsentantenversammlung teil. Siegfried Pinthus widmete sich intensiv dem jüdischen Gemeindeleben. Von 1926 bis 1937 war er Inhaber des Amtes für die jüdische Traditionspflege innerhalb der Erfurter Synagogengemeinschaft. Durch sein Wirken wurde das Gemeindeleben neu belebt. Zudem wirkte Pinthus 1927 an der Gründung eines „Vereins für jüdische Geschichte und Kultur“ mit und leitete später die „Thüringer Arbeitsgruppe für Jewish Agency“.

Seit 1933 fungierte er als Vorsitzender der Erfurter Jüdischen Gemeinde. Er organisierte im selben Jahr ein Treffen mit Jugendlichen, um mit ihnen über die Auswanderung nach Palästina zu sprechen. Durch die Machtübertragung an die Nationalsozialisten hatte dieses Thema für Jüdinnen und Juden an Relevanz gewonnen.

Pinthus verstarb am 21. November 1937, während er aufgrund eines Herzleidens eine Kur in Friedrichroda absolvierte. Seine Frau zog daraufhin zunächst zu Verwandten nach Berlin, musste jedoch während des Krieges mit fast sechzig Jahren in die Niederlande fliehen. Dort starb sie im Jahr 1941. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, Dr. Luis Herzberg, und ihren beiden Töchtern, Eva und Hanna, verließ Tochter Lotta Johanna Deutschland 1935, ebenfalls in Richtung Niederlande. Dr. Luis Herzberg wurde 1941 in Auschwitz ermordet, Eva starb vermutlich 1944 im Konzentrationslager Mauthausen. Das Schicksal von Lotta Johanna und Hanna ist nicht bekannt.

Lex: Herbert Robinski

Herbert Leopold Robinski, wohnhaft in der Leipziger Str. 118, war im „Kaufhaus Römischer Kaiser“ beschäftigt, das seit den 1920er Jahren immer wieder Ziel antisemitischer Anfeindungen war.

Geboren wurde Robinski am 29. März 1907 in der damals preußischen Stadt Strasburg, dem heutigen Brodnica in Polen. Auch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten beendete er frühzeitig den Schulbesuch und wurde mit 16 Jahren zu seinem Onkel ins ostpreußische Gumbinnen geschickt, wo er eine Lehre als Verkäufer begann. Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen entschied er sich jedoch nach zwei Jahren, die Ausbildung abzubrechen. Schließlich fand er eine Arbeitsstelle als Juniorverkäufer im Kaufhaus Tietz in Berlin. 1929 wurde er Chefverkäufer und Leiter der Abteilung Leinen, Baumwolle und Tuche im „Kaufhaus Römischer Kaiser“ in Erfurt, wo ihm circa 20 Beschäftigte unterstanden. Herbert Robinski führte vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten ein relativ sorgenfreies Leben in Erfurt. Vermutlich entstand in dieser Zeit das Foto, das Herbert Robinski bei einem ausgelassenen Kegelabend mit seinen Kollegen zeigt.

Anlässlich eines Buch-Projektes berichtete Robinski seinem Sohn, Steven Robins, über die Veränderungen im Jahr 1933:

„Zu der Zeit gingen wir Juden kaum vor das Haus, nur gelegentlich gingen wir noch aus, verstehst du, und manchmal sahen wir Leute in Uniform, die uns anstarrten. Das jagte uns Angst ein, und dann machten wir uns aus dem Staub.“

Vermutlich aufgrund eines kritischen Kommentars über die Hakenkreuz-Ohrringe einer Nachbarin wurde Herbert Robinski auf seiner Arbeitsstelle verhaftet und kam ins Gefängnis. Nach ein paar Wochen kam er gegen Kaution wieder frei, erhielt jedoch die Auflage, Erfurt nicht zu verlassen. Er plante deshalb mehrere Jahre lang heimlich seine Flucht. Als Ziel wählte er Südafrika, vermutlich weil dort sein Onkel Eugen und dessen Kinder beheimatet waren. Über die Vorbereitungen und seine Flucht berichtet er:

„Ich begann mit meinen Vorbereitungen. Als Erstes brauchte ich einen Reisepass. Es gab da einen anständigen Polizisten oder Beamten, und den bat ich, nicht ‚Strasburg, Westpreußen‘ hineinzuschreiben, sondern nur ‚Strasburg‘. Derart konnte es auch Straßburg in Elsass-Lothringen sein, denn es gab eine Quote [für Osteuropäer] in Südafrika. Wenn man aus Polen kam, ließen sie einen nicht herein. Man fiel dann unter eine Quote und brauchte eine besondere Erlaubnis. Doch wenn man aus Straßburg in Frankreich kam, gab es kein Problem… Das war alles, was ich brauchte. Ich ging nach Hause und sagte meiner Familie Auf Wiedersehen und buchte eine Reise in die Schweiz, was in Deutschland beliebt war und sich ‚Kraft durch Freude‘ nannte. Auch nach Italien konnte ich eine Fahrkarte bekommen… Ich verabschiedete mich von meinen Freunden. Ich hatte es derart eilig, dass ich ein paar Dinge zurückließ… Ich bestieg den Zug mit sehr gemischten Gefühlen. Würde ich durchkommen? Würden sie mich aufhalten? Doch sie hielten mich nicht auf… Als wir die Schweizer Grenze passierten, sahen wir auf einmal die Schweizer Eisenbahner in Uniform, und einige Leute sprangen aus dem Zug und begannen im Bahnhof zu tanzen. Die anderen müssen ebenfalls Juden gewesen sein, kein Zweifel. Ich blieb über Nacht in einem Schweizer Hotel. Um Mitternacht klopfte es an der Tür. ‚Wer ist da?‘ ‚Polizei, machen Sie auf!‘ Aber ich war doch in der Schweiz. So etwas hatte ich überhaupt nicht erwartet. ‚Was tun Sie, wie lange bleiben Sie hier?‘ Ich zeigte ihnen mein Zugticket nach Genua. Sie sagten: ‚Sind Sie sicher, dass Sie nach Genua reisen?‘ Ich sagte ja. Sie waren zufrieden, und ich legte mich wieder schlafen. Am nächsten Tag fuhr ich nach Genua und holte meine Fahrkarte… Als ich in Kapstadt ankam, fragte mich der Beamte der Einwanderungsbehörde, wo Strasburg sei. Ich zeigte ihm auf der Karte Elsass-Lothringen und war durch…“

Herbert Robinski erreichte Kapstadt am 14. Mai 1936 auf dem italienischen Linienschiff „Duilio“. Kurz nach seiner Ankunft kam es in Südafrika zu Massenprotesten gegen die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland. 1937 wurde ein Gesetz erlassen, das jüdischen Immigranten die Einreise sehr wirkungsvoll verwehrte: Für eine Einreiseerlaubnis mussten 100 Pfund für einen Erwachsenen und 50 Pfund für ein Kind in bar hinterlegt werden. Da die Nationalsozialisten jüdischen Auswanderern nicht gestatteten, das Land mit so viel Geld zu verlassen, wurde die Einreise damit praktisch unmöglich. Vergeblich bemühte sich Herbert Robinski, seine Eltern vor der Deportation zu retten. 1942 wurden sie nach Riga gebracht und anschließend vermutlich beide in Auschwitz ermordet. An Robinskis Eltern erinnern Stolpersteine. Seit dem Jahr 2000 liegen sie vor ihrem letzten Wohnsitz in der Naunynstraße 46 in Berlin Kreuzberg.

Robinski, inzwischen ein recht erfolgreicher Geschäftsmann, heiratete 1955 die 22 Jahre jüngere Ruth Naomi Rom aus Port Elizabeth. Das Ehepaar bekam zwei Söhne, Michael und Steven Robins. 1990 starb Herbert Robinski. Sein Sohn widmete sich der Erforschung der Familiengeschichte in einem Buch.

Lex: Novemberpogrom

Nachdem am 7. November 1938 Herschel Feibel Grynszpan als Reaktion auf die sogenannte „Polenaktion“ in der deutschen Botschaft in Paris den Diplomaten Ernst vom Rath erschossen hatte, ging eine Welle der Gewalt gegen die jüdischen Bevölkerungsteile durch das gesamte Deutsche Reich. Die „Polenaktion“ bezeichnet die Verhaftung und zwangsweise Ausbürgerung von über 17.000 vormals nach Deutschland eingewanderter polnischer Juden. Grynszpans Attentat wurde zum Anlass mehrtägiger Pogrome in nahezu allen deutschen Städten, deren Ursache im gesellschaftlich tief verwurzelten und seit 1933 staatlich beförderten Antisemitismus zu finden ist. In Aktionen systematischer Zerstörung plünderten antisemitische Deutsche, darunter zahlreiche Schüler*innen und Jugendliche, die von regionalen Funktionären der Hitlerjugend oder der SA angestachelt wurden, jüdische Geschäfte. Sie steckten Synagogen in Brand, zerstörten religiöse Gegenstände und drangen auch in Privatwohnungen ein. Die Feuerwehr kam ihrer Aufgabe, die brennenden Gebäude zu löschen, in vielen Fällen nicht nach und achtete oftmals lediglich darauf, dass keine umliegenden Häuser versehentlich Feuer fingen. Das Ausmaß der Zerstörungen und die Opferzahlen sind bis heute nicht vollständig erfasst. Die Gewalt fand sowohl in Großstädten als auch im ländlichen Raum Nährboden. In den Folgetagen des 9. November 1938 wurden im gesamten Reichsgebiet über 30.000 jüdische Männer verhaftet. Ein Großteil von ihnen wurde nach Misshandlungen und Demütigungen vorübergehend in Konzentrationslagern interniert, wodurch die Nationalsozialisten ihre Ausreise unter Zurücklassung eines Großteils des Vermögens erzwingen wollten.

Auch in Erfurt kam es zu pogromartigen Ausschreitungen. Die Synagoge am Stadtring wurde angezündet.Ca. 180 jüdische Bürger wurden unter Leitung des NSDAP-Kreisleiters in die Turnhalle der Oberrealschule in der Meyfartstraße gebracht. Dort wurden sie zum Teil schwer misshandelt, bevor sie am Morgen des nächsten Tages in das nahegelegene KZ Buchenwald deportiert wurden. Dort wurden auch sie, gemeinsam mit über 9.000 anderen jüdischen Männern, unter unmenschlichen Bedingungen interniert. Die SS ging gewaltsam gegen einzelne Menschen vor, notwendige Medikamente wurden vorenthalten, die hygienischen Bedingungen im „Pogromsonderlager“ waren katastrophal. Als Toiletten dienten beispielsweise lediglich zwei offene Gruben. Es stand nur ca. ¼ Liter Wasser pro Person und Tag zur Verfügung, sodass eine Typhusepidemie ausbrach. Im Januar 1939 verließen vermutlich die letzten Erfurter Juden das Lager. 75 von ihnen wanderten anschließend unter den von den Nationalsozialisten gestellten Bedingungen aus Deutschland aus. Die betroffenen Männer wurden zum Stillschweigen über das Erlebte verpflichtet.